Lesung im Sinnewerk Berlin: Unbekannt

…Der Mann stand auf, hatte sich den Knöchel etwas verrenkt, schüttelte sich die dicke Staubschicht von seinem Mantel und betrachtete dabei, wie das zerbröselte, braune Kreuz schon angefangen hatte, sich in Mehlerde zu verwandeln. Gut, das war getan, jetzt konnte es weitergehen. Er lief los in Richtung Osten, dort wo die Wiege der Sonne stand. Lief und lief, mal langsam, mal schneller, immer weiter dem Horizont entgegen. Einmal fasste er sich an den Hals, um sich zu kratzen. Merkwürdige Rillen fühlte er dort. Hier gab es keine Spiegel, doch es mussten wohl Kiemen sein, wie die Kiemen der stummen Fische. Und so lief er weiter, der stumme Seelenmensch, der sich soeben befreit hatte von seinem morschen Kreuz. Eine kleine Wolke begleitete ihn, wartete darauf sich zu ergießen. Ein lautloser Knall, und sie verging im einheitlichen Blau. So regnete es plötzlich Blätter vom Himmel, viele viele Blätter, wie die eines Buches. Er hob eines davon auf. Schwer war das Blatt, bleiern, besetzt von vielen tausend Buchstaben eines unbekannten Alphabets, einer anderen Welt vielleicht. Die Sonne schien, aber es regnete immer noch Blätter, Seiten, viele Gespräche im Wind. Jemand musste diese Blätter beschrieben haben, vor undenklichen Zeiten, irgendein Unbekannter, der unerkannt geboren wurde, unbekannt gelebt hatte, und unerkannt wieder gestorben war. Dessen Name die Zeit vergessen, das Licht verbrannt, der Wind auf seinem Wege verloren hatte..